Tango-
Kontinuum
Von Machos, Malevos und Vermaledeiten
Erzählungen
AUTORENVERLAG GERBGRUBEN
Über dieses Buch
Das Leben ist ein Tango. Wer würde nicht zugeben, dass das Leben
in Buenos Aires verwickelt und manchmal schwierig ist? Das Leben ist ein Weg,
den wir immer weitergehen. Hindernisse zwingen uns dazu anzuhalten, einen
Schritt zur Seite zu tun, zurückzugehen, sich zu drehen um eine andere Richtung
einzuschlagen, hie und da eine Firulete* zu machen. Und schon zeigt sich: Das
Leben ist ein Tango. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die typische Musik
eines Landes, ihre Melodie, ihr Takt, das Ergebnis des örtlichen Lebensrhythmus
sind, dazu kommen noch die geographische Lage und - ganz wesentlich - das
kulturelle Erbe. Die Texte, so es sich um gesungene Musik handelt, sind der
poetische Spiegel, der von den Schicksalsschlägen, Freudentagen und Erfahrungen
seiner Einwohner berichtet. Ich wage zu behaupten und habe es immer getan, dass
die große argentinische Dichtung sich auf einige Lyriker und die großen
Tangosänger verteilt.
Dieses Buch ist in
zwei Teile gegliedert. Der erste, „Das Fegefeuer“, ist unserem abstrusen
Verweilen in dieser Welt gewidmet, in der jeder, sogar die Allerheiligsten
gezwungen sind zu sündigen. Ich beziehe mich dabei nicht auf die Idee, dass wir
mit der Erbsünde geboren werden und immer wieder Buße tun müssen. Nein, ich meine,
ohne zu sündigen kann man nicht überleben. Ich rechtfertige damit in keiner
Weise die Tode, mit denen einige dieser Geschichten enden oder beginnen, auch
nicht in Gedanken. Müssten wir, um über das Gute zu schreiben, die Neigung des
Menschenwesens zur Sünde verneinen, würde ich nicht schreiben. In diesem ersten
Teil findet man Erzählungen über Malevos, die für die Anfangszeiten des Tango
zwischen 1895 und 1930 essentiell waren.
Ich muss dazu
erklären, dass der Tango nichts „Verbreche-risches“ ist. Ich zitiere Javier
Barreiro, der in der Einleitung zu seiner Anthologie „Der Tango“1 behauptet: „Über das Leben von Gardel gibt es noch
immer ein Wirrwarr von unglaublichen Vermutungen, die sogar von Verdrängung der
eigenen Persönlichkeit sprechen. All das zeigt uns das soziale Abseits, das
tiefe Außenseitertum, in dem der Tango geboren wurde.“
Dennoch leben in
diesen Randbezirken nur wenige an der Grenze zur Kriminalität. Ich zitiere ein
weiteres Mal die Einleitung Barreiros, in der jener die Reaktion Gardels auf
den Vorschlag einen Tango zu komponieren und zu singen, in dem er das
Vorstadtleben als „Schlangennest“ wiedergibt:
„Aber Che! Was glauben denn diese Leute? Madonna! Wir sind doch nicht
alle Verbrecher ... Ich kenne die Vorstadt und das Leben dort ist nichts für
Diebe. Außerdem: Wenn dort irgendein Verbrecher lebt, so gibt es in jedem
Vorort 20.000 Arbeiter, die um fünf Uhr Früh aufstehen ... Hört mit diesem
Unsinn auf! So etwas singe ich nicht!“
Ich möchte betonen,
der Conventillo*, zu einem großen Teil die Wiege des Tangos, war ein Mietshaus
im 19. Jahrhundert, mit einem Innenhof, auf den alle Türen der einzelnen
Wohnungen führten. In unserem, dem 21. Jahrhundert, sind die Gebäude in den
europäischen Stadtvierteln, wo mittellose Familien und Gastarbeiter leben, die
moderne Variante desselben Wohnungstyps, den man in Großstädten wie Berlin,
Paris und Wien antrifft. Dort versammeln sich im Hof die Kinder jener Familien,
spielen, diskutieren und streiten miteinander. Aus diesem Umfeld kommen die
Textdichter und Musiker des europäischen Rap. Ihre ätzenden, rebellischen Texte
erreichen manchmal ein unzweifelhaft poetisches Niveau. Die Globalisierung hat
das möglich gemacht. Die Unsicherheit und die Jugendarbeitslosigkeit haben ein
manchmal unerträgliches Milieu erzeugt, das zum Protest zwingt. Sowohl die
Bronx in den USA als auch die Sozialwohnungen in Europa strapazieren die Geduld
der arbeitslosen Jugendlichen. Ab und zu manifestiert sich ein Protest in Form
einer Straßenkundgebung, was aber ständig erfolgt, ist die Anprangerung
derartiger Missstände im deutschen, französischen und spanischen Rap. Das war
auch im Buenos Aires zwischen 1885 und 1930 der Fall, Jahre, in denen Millionen
europäischer Immigranten unter Raumnot und Anpassungs-schwierigkeiten litten.
Sie werden sagen, dass es damals in Buenos Aires keine Arbeitslosigkeit gab.
Das stimmt, aber es gab Existenzängste unter jenen, die verarmt angekommen
waren und jene Randviertel mit den Einheimischen teilen mussten. Ebendiese
Globalisierung und der Mangel an Respekt für den, der Arbeit sucht und keine
findet, hat dem Tango in Europa einen neuen Impuls gegeben. Man darf nicht
vergessen, in Spanien gibt es im Durchschnitt 20 Prozent Arbeitslose und noch
vor zwei Jahren standen die österreichischen Banken und
Finanzierungsgesell-schaften vor dem Ruin. Wie in den USA hat die Regierung
trotz der vorhandenen hohen Schulden diesen in jenem Notfall Millionen Euro
Kredit gewährt, mit der Absicht, dass die Bürger ihre Ersparnisse nicht
verlieren. Dessen ungeachtet haben jene, die Hypotheken bei
Finanzierungsgesellschaften hatten, alles verloren, was sie eingezahlt
hatten.
Der zweite Teil des
Buches nennt sich „Die Hölle“ – jener Ort, der den schweren Sündern, den
Verbrechern dieser Welt vorbehalten ist. Und wenn das Leben ein Tango ist und
der Tango wie dieses ein Kontinuum, finden sich dort Erzählungen, die von
einigen großen Übeln dieser Welt handeln: von unverzeihlichen Sünden, dem
ständig wiederkehrenden Chaos, das die ersehnte Harmonie und Normalität erschüttert
und zerstört. Das ist die Kernaussage des Titels, keineswegs jedoch die
Anprangerung der rebellischen Wesensart des Tango. Im Gegenteil, die beiden
Teile stellen die entgegengesetzten Pole des Menschlichen und des Bösen, des
Fassbaren und des Monströs-Unmenschlichen dar, zwischen denen die Sünde
beheimatet ist.
In seinen Anfängen kühn und frech, ist der Tango bei vielen
Gelegenheiten auch eine pathetisch klagende Stimme. Das Lied von Buenos Aires
ist aber viel mehr als nur gleichgültige Melancholie. Es ist der tiefe Ausdruck
einer ungestümen, eindringlichen, durch Mark und Bein gehenden Musik, die eine
der argentinischen und uruguayischen Seele innewohnende Energie verströmt. Was
man in deutschsprachigen Ländern als „südliche Mentalität“ bezeichnet, findet
im Tango seinen typischen Ausdruck. Leider verwechselt man in den Massenmedien
vieler nordeuropäischer Länder den Charakter bzw. die Mentalität des Südens mit
der des Orients. Da dieses Buch auch in deutscher Sprache erscheint, mache ich
von der Möglichkeit Gebrauch darauf hinzuweisen, dass die Weltanschauungen des
Orients und des amerikanischen Südatlantiks sehr verschieden sind. Das ist
wichtig, weil die argentinische Frau, vor allem die aus Buenos Aires, eine
Freiheit genießt, die im Orient nicht vorstellbar ist. Wie Barreiro anmerkt,
ist die ständig wiederkehrende Thematik des Tango die „Klage des betrogenen
Ehemannes“. Der Mann, welcher häufig von einer Frau verlassen oder betrogen
wird, macht seiner Seele Luft, wenn er dazu in der Lage ist. Wenn nicht, singt
er darüber in einem Tango. Er erleidet ein grausames Schicksal, kann die Dame
nicht vergessen, die sein Herz verwundet hat. Würden wir das Liebesleben in
Buenos Aires unter Bezugnahme auf die enorme Menge von Tangos beurteilen,
welche von Untreue handeln, müssten wir glauben, in Buenos Aires gebe es keine
ehrenwerte Liebe. Das wollen wir nicht tun.
Es stimmt, dass es
in dieser Gegend einen Männlichkeitskult gibt. Dennoch kann ich, ohne ein Thema
anschneiden zu wollen, das mehrere Seiten füllen würde, behaupten, dass in den
Regionen Europas, die ich besser kenne, der Typ des Machos ebenfalls präsent ist. Es ändern sich nur die Aspekte und
die Form, in denen dies zum Ausdruck kommt. Man darf nicht vergessen, dass in
Argentinien die Frau eine nicht unbedeutende Stellung in der Gesellschaft
einnimmt. Schuldirektoren sind fast immer Frauen und in vielen medizinischen
Bereichen spielen sie eine mehr als achtbare Rolle, so etwa in der Psychologie,
der Psychoanalyse, der Geburtshilfe und der Gynäkologie. Sie tun sich auch als
Politikerinnen hervor und es ist kein Zufall, dass Argentinien weltweit eines
der ersten Länder war, das große weibliche Führungspersönlichkeiten aufzuweisen
hatte. Ohne sie politisch verteidigen zu wollen, erinnere ich daran, dass Eva
Perón nicht zur Vizepräsidentin gewählt wurde, weil ihre Gegner sie fürchteten
und „moralische“ Gründe ins Treffen führten, um ihre Kandidatur zu verhindern.
Das ist in Argentinien unter dem „Tag des Verzichts“ bekannt.
Wenn wir uns einen jungen Mann aus dem Tangomilieu vorstellen, der
eine Frau verführt, beobachten wir, dass er sich ihr nähert wie ein Torero, der
die Arena betritt. Jene, so sie sich auf sein Spiel einlässt, weiß nicht nur
ein anregendes Gespräch zu führen, sondern zeigt ihm, sofern sie dazu
Gelegenheit hat, mittels einer oder zwei Anspielungen subtil, dass sie in
Liebesdingen nicht wehrlos ist. Mehr nicht. Bei der Verführung heben die Frau
und der Mann - halb übertreibend - ihre besten Eigenschaften hervor und zögern
dabei auch nicht, einige gar nicht vorhandene anzuführen. Nicht nur das Leben
in Buenos Aires ist also voller Schwindeleien, sondern auch die Liebe. Tango
als Tanz ist ein elegantes Ballett, eine Aneinanderreihung von Finten,
Andeutungen, Starts und Stopps, ein zickzackartiges Vor- und Zurückschreiten.
Das Paar grenzt sein Territorium ab wie ein Tier im Großstadtdschungel und
macht Schritt für Schritt seine überaus verfüh-rerischen Figuren. Der Volksmund
sagt, dass eine Frau, die mehrere Liebschaften hat und geschickt mit Männern
spielt, ins Garn geht. Und im
Gespräch etwas vorzugaukeln, mit dem Hintergedanken eine Frau zu erobern, ist
keine Sünde. Im Gegenteil, hacer el
chamuyo, in diesem Fall viel zu reden, um sie herumzukriegen, ist eine
Tugend, die Kunst des guten Geschäfts-mannes.
Die Zeit vergeht und
das Leben in Buenos Aires hat heute einen anderen Rhythmus als in den Zeiten
Gardels. In den 60er Jahren trat ein großer Komponist in Erscheinung, der die
neuen subtilen Klänge der Stadt zu interpretieren wusste: Astor Piazzolla. Ich
hatte Gelegenheit, jene zu hören, die sich über den Tango Nuevo beklagten,
indem sie vorbrachten, dies sei nicht Tango. Natürlich ist das Tango! Die Musik
Piazzollas ist der Tango dieser
Jahrzehnte, ohne jene außer Acht zu lassen, die dem klassischen Tangostil treu
blieben.
Der Tango ist als
Ausdrucksmittel des Volkes am Río de la Plata das geeignetste Barometer, um die
Haltung des Volkes gegenüber den staatlichen Machenschaften des Landes zu
messen. Das ist kein Zufall angesichts des Mangels an staatlicher Verantwortung
und der Schutzlosigkeit des Bürgers als Folge der Globalisierung, die in Europa stolz auf den Friedhof schreitet und
den Leichnam der sozialen Sicherheit und der mangelnden Sensibilität in den
notwendigsten Bereichen zu Grabe trägt. So gesehen ist der Tango in Europa
präsenter denn je. Man soll ihn tanzen, über ihn reden und, was das Wichtigste
ist: ihn leben.
Da sich dieses Buch
auch an spanische und lateinamerika-nische Leser richtet, sind alle dem
Lunfardo entnommenen Ausdrücke mit einem Sternchen markiert und werden in einem
Glossar erklärt. Es handelt sich dabei um offensichtlich aus dem Lunfardo
stammende Wörter oder um Argentinismen, die in Wirklichkeit dem Spanischen
angehören, aber auf der Iberischen Halbinsel nicht mehr gebräuchlich sind.
So bleibt mir nur
mehr zu wünschen, dass die vorliegenden Geschichten, die in Österreich
entstanden sind, wo ich lebe und verwurzelt bin, jedem zusagen, der die
Liebenswürdigkeit hat sie zu lesen. Abschließend möchte ich sagen, dass die
Stadt Buenos Aires, welche von einem meiner Vorfahren, Juan de Garay, gegründet
wurde, die eigentliche Urheberin dieser Musik ist, welche die Welt erobert hat.
Der Autor
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